Stell dir vor, zwei Studierende legen denselben Test ab, aber ihre Ergebnisse hängen mehr von den Launen des Prüfenden als von ihren tatsächlichen Leistungen ab. Oder ein Patient erhält zwei völlig unterschiedliche Diagnosen, je nachdem, welcher Psychologe die Tests interpretiert. Solche Szenarien zeigen die zentrale Bedeutung der Objektivität in der Diagnostik. Doch was genau bedeutet Objektivität, warum ist sie so essenziell und wie kann sie in der Praxis sichergestellt werden? Hier gebe ich dir einen umfassenden Überblick über das Gütekriterium der Objektivität, von der Definition bis zu Herausforderungen in der Praxis.
Was ist Objektivität?
Die Objektivität eines Tests beschreibt, inwiefern die Ergebnisse unabhängig von der Person des Untersuchenden oder äußeren Einflussfaktoren sind. Ein objektiver Test liefert konsistente Ergebnisse, egal wer ihn durchführt, auswertet oder interpretiert.
Objektivität wird oft als Voraussetzung für die anderen primären Gütekriterien, Reliabilität und Validität, betrachtet:
- Reliabilität: Ein Test kann nur zuverlässig messen, wenn die Ergebnisse nicht von subjektiven Einflüssen verzerrt sind.
- Validität: Ein Test misst nur das, was er vorgibt zu messen, wenn keine Verzerrungen durch persönliche oder äußere Faktoren vorliegen.
Objektivität ist essenziell, um Verzerrungen zu minimieren und valide, vergleichbare Ergebnisse zu erhalten. Sie hat weitreichende Implikationen in verschiedenen Bereichen. Lehrkräfte und Prüfende müssen zum Beispiel im Bildungssystem sicherstellen, dass Noten nicht von ihrer persönlichen Einstellung oder ihrem Verhältnis zu den Studierenden abhängen. Objektive Prüfungen fördern Chancengleichheit. Oder in der Arbeitswelt, spielen objektive Tests bei der Personalauswahl eine zentrale Rolle, um sicherzustellen, dass die besten Kandidat:innen ausgewählt werden, unabhängig von persönlichen Präferenzen der Interviewenden. Oder als letztes Beispiel werfen wir einen Blick in das Gesundheitssystem. In der klinischen Diagnostik ist Objektivität entscheidend, um konsistente und verlässliche Diagnosen zu stellen, die unabhängig von der Person des Diagnostikers sind.
Die Spannung zwischen Objektivität und Subjektivität
Der Artikel „Psychology—Tensions between Objectivity and Subjectivity“ von Sven Hroar Klempe beleuchtet die grundlegende Spannung zwischen Objektivität und Subjektivität in der Psychologie. Der Autor argumentiert, dass diese Dichotomie essenziell für die Identität der Disziplin ist. Historisch war Psychologie ursprünglich Teil der Metaphysik, bevor sie sich als eigenständige Wissenschaft etablierte. Immanuel Kant trennte die empirische Psychologie von der Metaphysik, da sie seiner Meinung nach nicht die Kriterien einer reinen Wissenschaft erfüllte. Er betrachtete sie vielmehr als Teil der Anthropologie, da sie subjektive Aspekte wie Empfindungen berücksichtigte.
Philosophen wie Fichte und Hegel verschoben den Fokus hin zur Subjektivität als Grundlage für objektive Erkenntnis. Diese Annäherung führte jedoch zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt, was die Psychologie potenziell ihrer Eigenständigkeit beraubte. Kierkegaard hingegen betonte die unüberwindbare Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität. Für ihn ist diese Spannung zentral für das Verständnis der menschlichen Existenz und eine Quelle existenzieller Konflikte wie Angst.
Klempe argumentiert, dass weder eine einseitige Betonung der Objektivität noch der Subjektivität zielführend ist. Beide Perspektiven sind notwendig, um die Psychologie als unabhängige Wissenschaft zu bewahren. Eine Überbetonung einer Seite führt dazu, dass die Psychologie entweder in die Naturwissenschaften oder die Philosophie integriert wird, was ihre Unabhängigkeit gefährdet. Abschließend fordert der Autor eine Balance zwischen Reflexion und Empfindung sowie zwischen subjektiven und objektiven Aspekten, um die fundamentale Spannung in der Psychologie produktiv zu nutzen und ein umfassendes Verständnis der menschlichen Psyche zu ermöglichen.
Arten der Objektivität
Objektivität lässt sich in drei zentrale Kategorien unterteilen.
Die Durchführungsobjektivität beschreibt die Einheitlichkeit der Testbedingungen während der Test-Durchführung:
- Werden alle Teilnehmenden gleich behandelt?
- Gibt es eine standardisierte Testumgebung (z. B. gleiche Zeit, gleicher Raum)?
- Beispiel: Ein computergestützter Intelligenztest, bei dem alle Teilnehmenden dieselben Anweisungen und Aufgaben erhalten.
Siehe dazu auch die Inhalte zur Vorbereitung und Durchführung von Tests.
Bei der Auswertungsobjektivität geht es darum, ob die Bewertung der Ergebnisse unabhängig von der Person ist, die den Test auswertet:
- Sind die Bewertungskriterien klar definiert?
- Werden die Antworten automatisiert ausgewertet (z. B. bei Multiple-Choice-Tests)?
- Beispiel: Eine Matheaufgabe mit nur einer richtigen Lösung ist auswertungsobjektiver als eine offene Frage zu persönlichen Meinungen.
Die Interpretationsobjektivität bezieht sich auf die Einheitlichkeit der Schlussfolgerungen aus den Testergebnissen:
- Werden dieselben Normtabellen oder Standards verwendet?
- Werden die Ergebnisse unabhängig interpretiert?
- Beispiel: Ein Intelligenztest mit Normwerten ermöglicht eine objektive Einordnung der Ergebnisse.
Wie misst man Objektivität?
Die Messung der Objektivität erfolgt durch verschiedene Methoden, die je nach Art der Objektivität variieren. Die Messung ist dabei aber eher indirekter Natur, es gibt in dem Sinne keine Metrik, wie wir es zum Beispiel bei der Reliabilität haben, mit der Objektivität ausgedrückt wird.
Aber folgende Merkmale könnte man heranziehen:
- Standardisierte Manuals: Einheitliche Anweisungen und Bedingungen. (Durchführungsobjektivität)
- Kontrolle durch Beobachtende: Eine dritte Person überwacht die Durchführung, um Abweichungen zu minimieren. (Durchführungsobjektivität)
- Interrater-Reliabilität: Die Übereinstimmung zwischen verschiedenen Bewertenden wird überprüft (Auswertungsobjektivität). Beispiel: Zwei Lehrkräfte bewerten denselben Aufsatz. Wenn ihre Bewertungen stark übereinstimmen, ist die Auswertungsobjektivität hoch.
- Einsatz von Normtabellen: Ergebnisse werden anhand festgelegter Standards eingeordnet. (Interpretationsobjektivität)
- Vergleich mit bestehenden Daten: Ergebnisse werden mit bekannten Mustern oder Benchmarks abgeglichen. (Interpretationsobjektivität)
Faktoren, die die Objektivität beeinflussen
Selbst bei standardisierten Verfahren kann die Objektivität beeinträchtigt werden. Hier sind einige Einflussfaktoren:
- Subjektivität der Untersuchenden: Persönliche Vorurteile, wie der Halo-Effekt, können zu Verzerrungen führen. Beispiel: Eine Beurteilende bewertet eine Kandidatin strenger, weil sie zu spät zum Test erschienen ist.
- Testdesign: Offene Fragen oder projektive Verfahren (z. B. Rorschach-Test) sind typischerweise weniger objektiv als standardisierte Multiple-Choice-Tests.
- Testbedingungen: Unruhige Umgebungen oder unterschiedliche technische Geräte können die Durchführungsobjektivität beeinträchtigen.
Strategien zur Verbesserung der Objektivität
Um die Objektivität zu maximieren, können folgende Maßnahmen ergriffen werden:
- Standardisierung: Verwendung von Testmanualen und Leitfäden, die klare Anweisungen für die Durchführung und Auswertung enthalten. Hier spielt auch Automatisierung eine Rolele, denn computergestützte Tests oder automatische Auswertungssysteme können menschliche Fehler reduzieren.
Die Rolle der Automatisierung nach Hanna (2004)
In seinem Artikel „The Scope and Limits of Scientific Objectivity“ untersucht Joseph F. Hanna die Spannweite und Begrenzungen wissenschaftlicher Objektivität. Er analysiert verschiedene Konzepte von Objektivität und schlägt ein Modell vor, das wissenschaftlichen Fortschritt als einen Prozess der Mechanisierung und Automatisierung beschreibt. Laut Hanna entsteht Objektivität, wenn subjektive menschliche Entscheidungen durch objektive, automatisierte Prozesse ersetzt werden, was die Transparenz und Neutralität der Wissenschaft erhöht.
Hanna unterscheidet zwischen interner (methodologischer) und externer (realistischer) Objektivität. Externe Objektivität bezieht sich auf die Annahme einer unabhängigen, objektiven Realität, während interne Objektivität sich auf die Methoden konzentriert, die Wissenschaftler zur Untersuchung dieser Realität verwenden. Er argumentiert, dass wissenschaftlicher Fortschritt weniger auf der Annäherung an eine „wirklich reale“ Wahrheit basiert, sondern vielmehr auf der Kohärenz von Daten, die durch präzise, zuverlässige und korrelierte Artefakte erzeugt werden.
Hanna zeigt, wie technologische Entwicklungen, wie in der Teilchenphysik, wissenschaftliche Prozesse zunehmend automatisieren und damit die Objektivität stärken. Gleichzeitig betont er, dass diese Artefakte von menschlichen Werten und sozialen Kontexten geprägt sind. Seine Analyse legt nahe, dass Wissenschaft sowohl durch die Automatisierung objektiver Methoden als auch durch die bewusste Reflexion ihrer Werte voranschreitet. Diese Balance ist entscheidend, um die Grenzen und Möglichkeiten wissenschaftlicher Objektivität zu verstehen.
- Schulung: Untersuchende und Bewertende sollten regelmäßig geschult werden, um Verzerrungen zu vermeiden.
- Peer Reviews: Ergebnisse und Interpretationen sollten von unabhängigen Fachpersonen überprüft werden.
Ist Objektivität überhaupt das Ziel?
In seinem Artikel „The Myth of Objectivity or Why Science Needs a New Psychology of Science“ hinterfragt Ian I. Mitroff die traditionelle Vorstellung von Wissenschaft als rein objektiv und rational. Auf Basis einer zweijährigen Studie mit über 40 renommierten Wissenschaftlern zeigt er, dass diese gängige Sichtweise – der sogenannte „Mythos der Objektivität“ – die tatsächliche Praxis wissenschaftlicher Arbeit verfehlt. Wissenschaftler agieren oft subjektiv, emotional und parteiisch, da sie starke Bindungen an ihre Theorien und Hypothesen haben. Diese Eigenschaften, wie Leidenschaft und Beharrlichkeit, sind laut Mitroff essenziell, um neue wissenschaftliche Erkenntnisse hervorzubringen.
Mitroff argumentiert, dass Objektivität in der Wissenschaft nicht durch individuelle Neutralität erreicht wird, sondern durch den Austausch und die Konfrontation unterschiedlicher Perspektiven. Konflikte und Advocacy spielen dabei eine konstruktive Rolle, indem sie wissenschaftliche Prozesse vorantreiben. Der Mythos, Wissenschaft müsse frei von Subjektivität sein, gefährdet laut Mitroff die Innovationsfähigkeit der Wissenschaft, da er diese wichtigen Dynamiken ignoriert.
Statt Subjektivität aus der Wissenschaft zu verbannen, fordert Mitroff, sie gezielt zu verstehen und zu nutzen. Eine neue Psychologie der Wissenschaft, die auch kreative und divergierende Denkweisen einbindet, könnte dazu beitragen, die Wissenschaft flexibler und zukunftsfähiger zu gestalten. Wissenschaft ist demnach kein Gegensatz von Objektivität und Subjektivität, sondern ein komplexes Zusammenspiel beider Elemente.
Trotz aller Bemühungen ist eine 100%ige Objektivität oft unerreichbar. Gründe dafür sind zum Beispiel die menschliche Komplexität. Manche Phänomene, wie Emotionen oder Kreativität, sind schwer standardisierbar und lassen sich nicht vollständig objektiv messen. Oder manchmal ist strikte Objektivität auch gar nicht geforderter oder Kontraproduktiv: In der Therapie oder Beratung kann eine gewisse Flexibilität wichtiger sein.
Eine neue Perspektive: Unabhängigkeit
In „Science and Objectivity“ untersucht Peter Kosso (1989) das Konzept der Objektivität in der Wissenschaft und die Bedingungen, unter denen wissenschaftliche Erkenntnisse glaubwürdig sind. Objektivität, so argumentiert er, ist nicht nur ein Ideal, sondern ein entscheidender Faktor, der die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft untermauert. Er verbindet Objektivität mit dem Konzept der epistemischen Unabhängigkeit, bei dem wissenschaftliche Behauptungen durch unabhängige Beweise und Theorien validiert werden.
Kosso hebt hervor, dass Beobachtungen in der Wissenschaft oft theorieabhängig sind, jedoch eine Unabhängigkeit bewahrt werden kann, wenn die unterstützenden Theorien unabhängig von der zu testenden Theorie sind. Diese Unabhängigkeit erlaubt es, systematische Fehler und Verzerrungen zu minimieren. Als Beispiel nennt Kosso die Experimente von Jean Perrin, die Avogadros Zahl durch verschiedene unabhängige Methoden bestätigten und dadurch die Glaubwürdigkeit der Molekulartheorie stärkten.
Kosso schlägt vor, die traditionelle Dichotomie zwischen Theorie und Beobachtung durch eine Unterscheidung zwischen unabhängigen und nicht-unabhängigen Beweisen zu ersetzen. Dies betont die Bedeutung der Unabhängigkeit bei der Bewertung wissenschaftlicher Beweise. Die Objektivität, so Kosso, entsteht nicht durch die Abwesenheit von Subjektivität, sondern durch die Vielfalt und Unabhängigkeit der Ansätze, die zu einem Konsens führen. Diese Perspektive soll helfen, die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Aussagen besser einzuschätzen.
Q&A
Objektivität bedeutet, dass die Ergebnisse eines Tests oder einer Messung unabhängig von der Person sind, die den Test durchführt, auswertet oder interpretiert. Das Ziel ist, subjektive Einflüsse zu minimieren, um die Vergleichbarkeit und die Validität der Ergebnisse sicherzustellen. Zum Beispiel sollte ein mathematischer Leistungstest dasselbe Ergebnis liefern, unabhängig davon, wer den Test beaufsichtigt oder auswertet. Ohne Objektivität sind Ergebnisse unzuverlässig und können die wissenschaftliche Aussagekraft beeinträchtigen.
Objektivität wird in drei Typen unterteilt: Durchführungsobjektivität, Auswertungsobjektivität und Interpretationsobjektivität. Die Durchführungsobjektivität garantiert, dass alle Testpersonen unter denselben Bedingungen getestet werden. Die Auswertungsobjektivität stellt sicher, dass die Ergebnisse unabhängig von der Person, die den Test auswertet, gleich bleiben. Interpretationsobjektivität bedeutet, dass alle Anwender des Tests zu denselben Schlussfolgerungen gelangen. Alle drei Typen sind essenziell, um die Glaubwürdigkeit eines Tests zu sichern.
Die Durchführungsobjektivität sorgt dafür, dass alle Testpersonen denselben Anweisungen folgen und die gleichen Testbedingungen erleben. Ohne diese Einheitlichkeit könnten äußere Faktoren wie Lärm, Beleuchtung oder unterschiedliche Instruktionen die Ergebnisse verzerren. Zum Beispiel könnte ein mündlicher Test unfaire Unterschiede hervorrufen, wenn ein Prüfer detailliertere Erklärungen gibt als ein anderer. Die Sicherstellung der Durchführungsobjektivität macht die Ergebnisse vergleichbar und reduziert mögliche Verzerrungen.
Die Auswertungsobjektivität kann durch die Nutzung standardisierter Bewertungssysteme, wie z. B. einer Punkteskala oder automatisierter Software, gewährleistet werden. Bei Multiple-Choice-Tests ist die Auswertungsobjektivität meist hoch, da es nur eine richtige Antwort gibt. Bei offenen Fragen hingegen können Unterschiede in der Bewertung auftreten. Daher sind klare Bewertungskriterien und Schulungen für die Auswerter wichtig, um subjektive Urteile zu minimieren.
Die Interpretationsobjektivität kann schwer zu erreichen sein, da sie von der Expertise und den individuellen Perspektiven derjenigen abhängt, die die Ergebnisse interpretieren. Unterschiedliche Fachleute könnten zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, besonders bei komplexen Tests wie Persönlichkeitsdiagnosen. Um diese Herausforderung zu meistern, sollten standardisierte Interpretationsrichtlinien und Schulungen bereitgestellt werden, die sicherstellen, dass alle Anwender die Ergebnisse auf eine einheitliche Weise deuten.
Fazit
Objektivität ist ein zentrales Gütekriterium, das in der Diagnostik nicht vernachlässigt werden darf. Sie bildet die Grundlage für valide und zuverlässige Ergebnisse und trägt dazu bei, dass Entscheidungen fair und vergleichbar sind. Mit sorgfältigem Testdesign, Schulung und Automatisierung lassen sich die meisten Herausforderungen bewältigen. Dennoch bleibt es wichtig, die Grenzen der Objektivität zu erkennen und abzuwägen, wann Flexibilität notwendig ist.
Alles klar?
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