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Interviews als diagnostisches Verfahren: Einblicke und Empfehlungen

Interviews gehören zu den ältesten und gleichzeitig vielseitigsten Methoden in der psychologischen Diagnostik. Ihre Anwendung reicht von klinischen Kontexten bis zur Personalauswahl, wo sie beispielsweise zur Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen, kognitiven Fähigkeiten oder sozialer Kompetenz eingesetzt werden. Durch ihre Flexibilität eignen sie sich sowohl für explorative Ansätze als auch für streng strukturierte diagnostische Fragestellungen, was ihre Relevanz in unterschiedlichsten diagnostischen Szenarien unterstreicht.

Definition und Ziele

Ein diagnostisches Interview ist ein geplantes Gespräch, bei dem eine Fachperson gezielt Informationen von einer befragten Person erhebt. Ziel ist es, relevante Daten über Verhaltensweisen, Erlebensweisen und persönliche Umstände zu sammeln, die für die jeweilige diagnostische Fragestellung von Bedeutung sind.

Definition: Ein diagnostisches Interview ist eine Methode der Informationsgewinnung, bei der durch gezielte Fragen und aktives Zuhören Erkenntnisse über psychologische Merkmale und Verhaltensweisen gewonnen werden.

Warum Interviews in der Diagnostik einsetzen?

Interviews bieten die Möglichkeit, diagnostisch relevante Informationen in einem interaktiven Prozess zu gewinnen. Sie sind besonders wertvoll, um:

  • Subjektive Einschätzungen zu erfassen (z. B. Selbstauskunft über Gefühle oder Einstellungen).
  • Hintergründe und Kontexte zu verstehen (z. B. Lebensumstände oder berufliche Erfahrungen).
  • Verhaltensweisen und Reaktionen in Echtzeit zu beobachten.

Grad der Strukturierung diagnostischer Interviews

Bei diagnostischen Interviews unterscheiden wir vor allem bzgl. des Grades der Strukturierung der Interviews:

1. Unstrukturierte Interviews

  • Merkmale: Keine festen Vorgaben oder Fragen. Die Gesprächsrichtung ergibt sich spontan.
  • Vorteile: Flexibilität; geeignet, um neue Themen oder unvorhergesehene Informationen zu erkunden.
  • Nachteile: Begrenzte Vergleichbarkeit und Reliabilität.

2. Halbstrukturierte Interviews

  • Merkmale: Teilweise festgelegte Fragen mit Raum für offene Gesprächsanteile.
  • Vorteile: Kombiniert Standardisierung mit Flexibilität; erhöht Vergleichbarkeit.
  • Nachteile: Höherer Schulungsaufwand für Interviewer\:innen.

3. Strukturierte Interviews

  • Merkmale: Klare Vorgaben für Fragen und Abfolge; oft mit Antwortskalen.
  • Vorteile: Höchste Objektivität und Vergleichbarkeit; leicht auszuwerten.
  • Nachteile: Weniger Raum für individuelle Themen.

Herausforderungen diagnostischer Interviews

1. Subjektivität des Interviewers: Unbewusste Vorurteile oder mangelnde Neutralität können die Validität beeinflussen. Eine Lösung bieten hier Schulung in Interviewtechniken und Bewusstsein für Biases.

2. Antwortverzerrungen der Testperson: Testpersonen können ihre Antworten bewusst oder unbewusst anpassen (z. B. sozial erwünschte Antworten). Eine Lösung könnte in der neutrale Formulierungen und Aufbau einer vertrauensvollen Atmosphäre liegen.

3. Zeit- und Ressourcenaufwand: Interviews erfordern oft mehr Zeit als andere diagnostische Verfahren. Deshalb braucht es eine klare Zielsetzung und effiziente Gestaltung des Interviewprozesses.

Best Practices für diagnostische Interviews

1. Vorbereitung

  • Zielklarheit: Was soll das Interview erfassen? Welche Hypothesen liegen zugrunde? Ohne klare Zielsetzung wird das Interview ineffektiv.
  • Leitfaden: Erstellung eines Leitfadens, der die Ziele abdeckt.

2. Durchführung

  • Neutralität: Die Interviewer*innen sollten eine wertfreie Haltung bewahren.
  • Offene Fragen stellen: Ermöglicht es, umfassende Antworten zu erhalten. Beispiel: „Wie fühlen Sie sich in sozialen Situationen?“
  • Aktives Zuhören: Durch Nicken, Augenkontakt und Wiederholungen zeigt die Fachperson, dass sie aufmerksam ist.
  • Paraphrasieren: Die Aussagen der befragten Person in eigenen Worten wiedergeben, um Missverständnisse zu vermeiden.

3. Dokumentation und Auswertung

  • Protokollführung: Detaillierte Aufzeichnungen sind essenziell, um Verzerrungen zu vermeiden.
  • Standardisierte Auswertung: Besonders wichtig bei strukturierten Interviews.

Häufige Fehler und wie man sie vermeidet

Ein paar häufige Fehler sind die folgenden:

Unzureichende Schulung: Fehler in der Fragestellung oder Verhaltenssteuerung können die Ergebnisse beeinträchtigen.

Führungsfehler: Zu starkes Dominieren durch die Interviewer\:innen kann die Testperson verunsichern.

Missachtung nonverbaler Signale: Diese liefern wichtige Zusatzinformationen und sollten beachtet werden.

Eine komplettere Liste findet sich im Kontext der Eignungsdiagnostik in den vom Forum Assessment e.V. entwickelten „Interviewstandards 2021“. Die „Interview Standards 2021“ des Forum Assessment e.V. bieten eine umfassende Anleitung zur Entwicklung und Durchführung eignungsdiagnostischer Interviews. Sie basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und praxiserprobten Methoden und zielen darauf ab, die Qualität dieser Interviews zu sichern und zu verbessern. Die Standards richten sich an Personalverantwortliche, Beraterinnen sowie Wissenschaftlerinnen und sind ein wichtiger Beitrag zur Professionalisierung von Personalauswahl- und Entwicklungsverfahren.

Hintergrund und Zielsetzung

Das Forum Assessment e.V., gegründet 1977, ist ein Zusammenschluss von Expert*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und öffentlicher Verwaltung. Es hat sich das Ziel gesetzt, die Qualität von eignungsdiagnostischen Verfahren zu fördern. Die „Interview Standards 2021“ sind eine überarbeitete Fassung der erstmalig 2008 veröffentlichten Standards. Sie orientieren sich an der DIN 33430 und der ISO 10667, welche die Qualität von berufsbezogenen Eignungsdiagnostik-Verfahren regeln.

Struktur der Standards

Die Standards sind in acht zentrale Prozessschritte unterteilt, die den gesamten Interviewprozess von der Planung bis zur Evaluation abdecken:

  1. Auftragsklärung
    Hierbei werden die Ziele des Interviews, die relevanten Stakeholder und der organisatorische Rahmen geklärt. Eine klare Kommunikation aller Beteiligten fördert die Akzeptanz des Verfahrens.
  2. Arbeits- und Anforderungsanalyse
    Die Analyse der Zielposition und ihrer Anforderungen bildet die Grundlage für das Interview. Es werden erfolgskritische Merkmale definiert, die das Anforderungsprofil bestimmen.
  3. Interviewkonzeption
    In dieser Phase wird das Interview strukturiert und ein Leitfaden erstellt, der eine systematische und vergleichbare Durchführung sicherstellt. Verschiedene Fragetechniken wie situative oder biografische Fragen kommen zum Einsatz.
  4. Qualifikation der Verfahrensbeteiligten
    Um eine hohe Qualität zu gewährleisten, müssen die Interviewer*innen umfassend geschult sein. Dazu zählen Kenntnisse in Gesprächsführung, Fragetechniken sowie rechtliche Rahmenbedingungen.
  5. Durchführung des Interviews
    Die Gesprächsführung orientiert sich an den definierten Standards, um Objektivität und Fairness zu gewährleisten. Eine störungsfreie Umgebung und ein transparenter Ablauf sind essenziell.
  6. Protokollierung, Auswertung und Ergebnisfindung
    Die während des Interviews erhobenen Daten werden systematisch dokumentiert und ausgewertet. Ein standardisierter Bewertungsprozess ermöglicht zuverlässige Ergebnisse.
  7. Ergebnisdokumentation und -kommunikation
    Die Ergebnisse werden gemäß den rechtlichen Anforderungen dokumentiert und den relevanten Beteiligten klar und respektvoll kommuniziert. Dies ist entscheidend für die Akzeptanz der Verfahren.
  8. Evaluation
    Eine regelmäßige Evaluation stellt sicher, dass das Interviewkonzept kontinuierlich verbessert wird. Dabei werden sowohl die Durchführung als auch die Aussagekraft des Verfahrens überprüft.

Bedeutung und Nutzen

Die Einhaltung der „Interview Standards 2021“ verbessert die Zuverlässigkeit und Validität eignungsdiagnostischer Interviews. Sie fördern eine transparente und faire Personalauswahl, stärken die Akzeptanz bei Bewerber*innen und tragen zur Professionalisierung der Personalarbeit bei.

Das Dokument liefert nicht nur theoretische Grundlagen, sondern auch praktische Werkzeuge wie Leitfäden, Checklisten und Beispiele. Es ist ein unverzichtbarer Leitfaden für alle, die eignungsdiagnostische Interviews professionell durchführen oder optimieren möchten.

Mehr lesen

Das Buch „Eignungsdiagnostische Interviews: Standards der professionellen Interviewführung“ behandelt umfassend die Grundlagen, Methoden und Herausforderungen bei der Konzeption und Durchführung eignungsdiagnostischer Interviews. Es bietet sowohl wissenschaftlich fundierte als auch praxisorientierte Anleitungen, um die Qualität von Interviews in der Personalauswahl und -entwicklung zu gewährleisten.

Kernthemen des Buchs:

  1. Standards und Qualitätskriterien
    Ein zentrales Anliegen des Buches ist die Implementierung und Einhaltung von Standards, wie die vom Forum Assessment e.V. entwickelten „Interviewstandards 2021“. Diese umfassen alle Prozessschritte eines Interviews, von der Auftragsklärung bis zur Evaluierung. Qualitätssicherung und Fairness, etwa gegenüber verschiedenen Geschlechtern oder Minderheiten, stehen dabei im Fokus.
  2. Interviewgestaltung und -durchführung
    Die Autoren widmen sich detailliert den verschiedenen Typen von Interviews, darunter strukturierte, teilstrukturierte und unstrukturierte Formate. Sie betonen die Bedeutung der Anforderungsanalyse als Basis für ein aussagekräftiges Interview. Zudem wird die Rolle von Verhaltensankern und Leitfäden bei der Sicherstellung der Objektivität hervorgehoben​.
  3. Digitalisierung und technologische Trends
    In Anbetracht der zunehmenden Digitalisierung befasst sich das Buch mit den Herausforderungen und Chancen digitaler Interviewverfahren. Es beleuchtet Videointerviews, KI-gestützte Verfahren und die DIN SPEC 91426, die Standards für Videointerviews setzt​.
  4. Rechtliche und ethische Aspekte
    Ein weiteres Kapitel behandelt die rechtlichen Rahmenbedingungen, wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), und betont die Bedeutung von Datenschutz und Fairness in eignungsdiagnostischen Verfahren.
  5. Praxisbeispiele und Fallstudien
    Abschließend bietet das Buch Fallstudien aus verschiedenen Branchen, von der Bundesagentur für Arbeit bis zur Luftfahrtindustrie. Diese Beispiele verdeutlichen die Anwendung der Theorie in der Praxis und unterstützen den Transfer​.

Das Werk ist ein wertvolles Hilfsmittel für Personalverantwortliche, Beraterinnen und Psychologinnen, die in der Eignungsdiagnostik tätig sind. Es verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Empfehlungen und bietet so eine fundierte Grundlage für professionelle und effektive Interviews.

Q&A

Warum sind mündliche Befragungen im diagnostischen Prozess wichtig?

Mündliche Befragungen spielen eine entscheidende Rolle im diagnostischen Prozess, da sie eine tiefere Einsicht in die individuellen Erfahrungen und Gefühle der Klienten ermöglichen. Während standardisierte Tests oft nur quantitative Daten liefern, bieten Interviews die Möglichkeit, qualitative Informationen zu sammeln, die den Kontext und die Lebensgeschichte der Person berücksichtigen. Dies ist besonders wichtig, um ein umfassendes Bild der Situation zu erhalten und um spezifische Probleme zu identifizieren, die möglicherweise in einem standardisierten Test nicht erfasst werden.

Wie kann man sicherstellen, dass Interviews objektiv und zuverlässig sind?

Um die Objektivität und Zuverlässigkeit von Interviews zu gewährleisten, ist es wichtig, eine strukturierte Herangehensweise zu wählen. Dies kann durch die Verwendung von standardisierten Fragen und klaren Bewertungsrichtlinien erreicht werden. Zudem sollte eine Triangulation der Daten erfolgen, indem verschiedene Methoden zur Datenerhebung kombiniert werden, um die Ergebnisse zu validieren. Schulungen für Interviewer sind ebenfalls entscheidend, um sicherzustellen, dass sie kompetent und konsistent in ihrer Gesprächsführung sind, was die Vergleichbarkeit der Ergebnisse erhöht.

Welche Herausforderungen gibt es bei der Durchführung von Interviews?

Eine der größten Herausforderungen bei Interviews ist der hohe Aufwand, sowohl in der Datensammlung als auch in der Analyse. Interviews erfordern oft mehr Zeit und Ressourcen als standardisierte Tests, da sie qualitativ hochwertige, detaillierte Informationen liefern. Zudem kann die subjektive Wahrnehmung des Interviewers die Ergebnisse beeinflussen, was die Objektivität gefährden kann. Es ist auch wichtig, eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen, um sicherzustellen, dass die interviewte Person offen und ehrlich antwortet, was nicht immer einfach ist.

In welchen Phasen des diagnostischen Prozesses sind Interviews besonders nützlich?

Interviews sind besonders nützlich in den frühen Phasen des diagnostischen Prozesses, wenn noch unklar ist, welche spezifischen Probleme vorliegen. Sie helfen, ein erstes Verständnis der Situation zu entwickeln und relevante Themen zu identifizieren, die weiter untersucht werden sollten. Zudem können sie dazu beitragen, versteckte Probleme zu entdecken, die möglicherweise nicht sofort offensichtlich sind. Durch die Erfassung von Kontextinformationen können Diagnostiker fundierte Entscheidungen darüber treffen, welche Tests oder weiteren Schritte sinnvoll sind.

Welche Vorteile bieten qualitative Methoden im Vergleich zu quantitativen Tests?

Qualitative Methoden, wie Interviews, ermöglichen es, den Einzelfall detaillierter zu betrachten und spezifische Kontexte zu berücksichtigen. Sie bieten Flexibilität und die Möglichkeit, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen. Im Gegensatz zu quantitativen Tests, die oft standardisierte Antworten erfordern, erlauben qualitative Ansätze eine offenere und explorative Gesprächsführung. Dies kann zu einem besseren Verständnis der zugrunde liegenden Probleme führen und hilft, die Symptome in einem breiteren Kontext zu sehen, was für eine präzisere Diagnose entscheidend ist.

Fazit

Interviews sind ein unverzichtbares Werkzeug in der psychologischen Diagnostik. Ihre Vielseitigkeit erlaubt es, sowohl standardisierte Informationen zu sammeln als auch individuelle Besonderheiten zu erfassen. Gleichzeitig erfordern sie eine hohe Professionalität in der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung.

Alles klar?

Ich hoffe, der Beitrag war für dich soweit verständlich. Wenn du weitere Fragen hast, nutze bitte hier die Möglichkeit, eine Frage an mich zu stellen!